Roter Börsenkrach: Herr Fehr, waren sie beim RBK involviert?
Ernst Fehr: Ja, ich war der erste Fakultätsvorsitzende, bei den ersten ÖH-Wahlen 1977 haben wir sogar die Fakultätsmehrheit gewonnen.
RBK: Wie hat sich der RBK damals definiert?
EF: Das war eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Leuten die einfach mit der traditionellen Wirtschaftswissenschaft, so wie sie unterrichtet wurde, nicht zufrieden war und die nicht nur die Wirtschaftswissenschaften kritisiert haben, sondern auch die Gesellschaft sozusagen als ungerecht oder stark verbesserungswürdig empfunden haben. Es war eine unabhängige Gruppe, eine Bündelung von Reformkräften, die sich keiner Partei direkt zugeordnet haben, die die Gesellschaft verbessen wollten. Es hat verschiedene Sachen gegeben: Der eine hat sich für Entwicklungspolitik interessiert, hat gefunden, die Armut auf der Welt ist ein Skandal, da müsste man etwas tun. Der andere hat gefunden, das österreichische Gesundheitswesen ist verbesserungsbedürftig und so weiter. Eine Koalition der Reformwilligen.
RBK: Was würden Sie im Nachhinein sagen, hat Ihnen das Netzwerk RBK gebracht?
EF: Nicht viel, beruflich, weil ich in die Wissenschaft gegangen bin – zuerst am Institut für Höhere Studien, dann auf der TU. Aber am meisten profitiert habe ich davon, dass wir eine Zeitung gemacht haben, ich habe schreiben gelernt. Denn wenn man eine Zeitung macht, dann muss man so schreiben, dass der Leser versteht, und die Fähigkeit, sich in den Leser zu versetzen, die brauchst du überall – ob du jetzt Unternehmer bist und dich in die Konsumenten versetzt oder Politiker und dich in die Wähler versetzt. Immer dort wo es um die Bedürfnisse der anderen geht.
RBK: Was haben Sie von der Lehre an der Hauptuni mitgenommen – im Vergleich zu den Fähigkeiten, die Sie damals durch Strv, Fakultätsvertretung etc. mitgenommen haben?
EF: Also wenn ich ehrlich sein soll, dann hab ich von der Lehre nicht wahnsinnig viel profitiert. Während des Studiums habe ich ja kaum Volkswirtschaftslehre studiert – ich war eher organisatorisch tätig. Erst richtig VWL studiert habe ich nach meinem Magister. Das heißt ich habe vor allem gelernt zu organisieren, zu schreiben, unternehmerisch tätig zu sein, Arbeitskreise zu organisieren, in denen wir Marx und Keynes gelesen haben – Eigeninitiative ist sehr wichtig.
RBK: Jetzt lehren Sie an der Universität Zürich, wenn Sie die Universität dort mit Ihrer Studienzeit in Wien vergleichen…
EF: Die Studenten sind sehr brav – Sie haben auch allen Grund, brav zu sein! Ich unterrichte schon ganz was anderes, was damals unterrichtet wurde. Letztes Semester habe ich den goldenen Schwamm als beliebtester Professor bekommen, weil ich über Sachen erzähle, über die sie sonst nichts hören in der Wirtschaftswissenschaft – Vertrauen, Altruismus, soziale Präferenzen, beschränkte Rationalität. Ich lasse viel von der modernen Forschung einfließen und erzähle nicht nur über die Sachen die man weiß, sondern auch über die Sachen über die man nichts weiß und warum. Es gibt eine hohe Zufriedenheit unter den VWLern, es gab eine Umfrage laut denen die VWler am zufriedensten ist – und die BWLer am unzufriedensten.
RBK: Hören die Studenten in Zürich auch Vorlesungen über Marx und Keynes etc.?
EF: Keynes und Marx unterrichtet kaum jemand, auch ich nicht. Marx ist ja extrem empiriefern, das ist ja weitgehend empirisch unbestätigte Spekulation, was der gemacht hat. Der marxistische Ansatz hat sich als nicht sehr produktiv erwiesen in der Erforschung des wirtschaftlichen Verhaltens. In einem bestimmten Sinne sind wir alle Marxisten heutzutage, weil die Dominanz des Ökonomischen über das Politische oder Soziale schon sehr stark ist. Aber abgesehen von diesen sehr abstrakten Einsichten… Ein Fach, das sich über seine Ideengeschichte definiert, so wie die Soziologie über die Klassiker, ist für mich ein Beispiel, dass das Fach noch keine wirkliche Wissenschaft geworden ist. Ein Fach definiert sich über einen Kanon von verlässlichem Wissen. Und in der Ökonomie haben wir doch einen einheitlichen theoretischen Apparat, das ist die moderne Mikroökonomie und Spieltheorie. Wenn man diese Instrumente richtig anwendet – und nicht mathematisch verabsolutiert und nur noch in der Mathematik herumschwirrt, dann ist das ein sehr machtvolles Erkenntnisinstrument, davon war ich eigentlich schon früh überzeugt. Die Spieltheorie und die Mikroökonomie bilden die Sprache der Ökonomie. Wir starten mit dem Individuum, das Präferenzen und beliefs über das Verhalten der anderen hat. Ein Teil meiner Forschung beruht darin, dass wir zeigen, dass das Individuum nicht ausschließlich egoistisch und rational definiert sind – und das hat wichtige Konsequenzen für das Verhalten für Individuen und ganzer Systeme.
RBK: Wie weit kann man durch Versuchen mit 200 Personen, die man Situationen nachspielen lässt, das wirkliche Verhalten, das vielleicht erst in zehn Jahren Konsequenzen haben wird, nachvollziehen?
EF: Schauen Sie, Sie müssen sich fragen: „Wie verstehe ich Verhalten am besten?“ und da ist das Experiment ein möglicher Zugang. Andere Zugänge sind auch wichtig, die Beobachtung im Leben, da gibt es Bereiche wo das möglich ist. Es ist a priori keine Datenquelle der anderen überlegen. Durch das Experiment kann man enorm viel herausfinden, und sehr viele Einwände kann man relativ leicht entkräften. Und es zeigt sich, alle guten experimentell gewonnenen Verhaltensregularitäten bestätigen sich letztlich im Feld, da könnte ich viele Beispiele nennen.
RBK: Die gängige Mikroökonomie basiert auf der Grundlage des rationalen Verhaltens und der Eigennutzenmaximierung.
EF: Rationalität hat nichts zu tun mit Motiven, man kann ja auch ein rationaler Altruist sein. Rationalität heißt ja im Grunde nichts anderes transitive Präferenzen zu haben. Rationalität heißt, wenn ich das Glas Wasser dem kleinen Braunen vorziehe, dass ich dem Glas Wasser eine höhere Zahl zuordne, und dieser Zahl nennt der Ökonom Nutzen – aber ich könnte auch einen anderen Namen dafür finden. Sie ordnen Alternativen einfach. Das Nutzenmaximierungskalkül wird vielfach völlig missverstanden. Ich ordne der Alternative eine Zahl zu, und diese Zahl maximiere ich. Das ist nur eine Konvention. Der Fehler ist, dass der Begriff Nutzenmaximierung eine semantische Falle birgt, und man fälschlicherweise damit etwas Egoistisches verbindet. Deshalb ersetze ich den Begriff Nutzenfunktion in meinen Vorlesungen durch Zielfunktion, und dann ist klar, dass der Mensch alle mögliche Ziele haben kann. Vor allem Betriebswirte, die nur ein halbes Semester Mikroökonomie haben, missverstehen das.
RBK: Auch zur Rechtfertigung.
EF: Genau, aber es gibt auch soziale Motive, und wenn Leute die verfolgen, sind sie nicht egoistisch. Rationalität und Nutzen haben, richtig verstanden, nichts mit Egoismus zu tun. Der richtige Streitpunkt muss sein, welche revealed preferences der Mensch hat, da ist die Mikroökonomie schwachbrüstig gewesen in der vergangenen Zeit. In der angewandten Ökonomie sieht man immer nur self-regarding preferences. Wenn ich other-regarding preferences habe, ist es mir nicht egal, ob das Kind in Nigeria an irgendeiner Krankheit stirbt. Dass hat auch mit Externalitäten zu tun. Sobald man other-regarding preferences hat, gibt es keine Externalitätenfreiheit mehr, weil mein Konsum ihre Wohlfahrt beeinflusst.
RBK: Sie schreiben, dass die Einstellungen, bis zu welchem Grad man den Nutzen der anderen auch in seine Handlungen mit einbezieht, in verschiedene Gesellschaften kulturell verschieden sind.
EF: Ja, es gibt Experimente über verschiedene Kulturen hinweg, die zeigen, dass Österreicher, Deutsche und Schweizer anders handeln als Araber oder Griechen.
RBK: Haben sich diese Verhaltensmuster geändert?
EF: Sie stellen eine extrem schwierige Frage, das weiß niemand. Es ist hier extrem schwierig, hier Kausalitäten zu ermitteln. Wie beeinflusst die Gesellschaft das Individuum, was heißt Gesellschaft? Man könnte zum Beispiel ermitteln, ob durch das ganze Gerede von der Nutzenmaximierung das Ökonomiestudium die Leute egoistischer macht, es kann aber auch ein Selektionseffekt eintreten.
RBK: Glauben Sie, dass die Krise einen Einfluss auf diese other-regarding preferences hat, den Altruismus vielleicht sogar in eine Krise stürzt?
EF: Das ist die schwierigste Frage. Die Ökonomen gehen davon aus, dass Präferenzen relativ stabil sind. Diese Annahme halte ich nicht für völlig falsch. Ob die Krise die Präferenzen verändert? Diese extrem komplexe Frage kann niemand beantworten.
RBK: In Reaktion auf die Krise werden in der Management-Ebene öfter Initiativen gestartet, um soziales Kapital zu halten (z.B. bei Google). Glauben Sie, dass sich da ein Wandel abzeichnet?
EF: Google ist so profitabel, die können sich das leisten. Die Frage ist, was passiert, wenn die in die Zange genommen werden. Die Sache ist, das ständig was im Wandel ist in der Wirtschaft. Da ist viel Positives geschehen, aber nicht nur – wenn ich da an die Kassiererin an der Supermarktkasse denke, ein körperlich anstrengender und geisttötender Job. Die Frage ist, wie man das ändern kann.
RBK: Eine neue Definition von Arbeit vielleicht?
EF: Ein Unternehmen ist immer eine Art Organisation, und die sind bürokratisch, und es gibt immer Situationen, wo es Vorgesetzte gibt, die nicht gut sind. Wenn man aber vom Eigeninteresse eines kapitalistischen Unternehmers ausgeht, der skilled labour benötigt, dann braucht der gut qualifizierte Leute, die Eigeninitiative an den Tag legen. Es gibt zwischen Arbeitnehmer und Kapitalisten gemeinsame Interessen und gegenläufige Interessen, das ist ja kein Geheimnis. Das lernt uns die Spieltheorie völlig trivial. Die meisten Spiele sind keine Nullsummenspiele, es gibt gegenläufige Interessen – die Lohnhöhe zum Beispiel.
RBK: Es gibt aber viele Leute, die bei der Arbeitssuche nicht nur lohnfixiert sind und auch mehr in einer Arbeit suchen – Stichwort Eigeninitiative. Hier scheint es aber zu wenig Angebot auf Seite der Arbeitgeber zu geben.
EF: In einer Untersuchung über Arbeitszufriedenheit, die wir durchgeführt haben, zeigt sich, dass bei zwei Personen, die die gleiche Arbeit verrichten, die besser ausgebildete zufriedener ist. Wir stellen auch fest, dass Leute mit höherer Ausbildung Jobs mit mehr Freiheitsgraden haben. Das ist wiederum klar, denn ein Arbeitgeber gibt jemanden Ungebildeten natürlich weniger Freiraum als jemandem, der wiederholt gezeigt hat, dass er mit diesem Spielraum, diesem Vertrauen sich einsetzt für die Sache. Gestaltungsspielraum ist ein ganz wichtiger Bestandteil der Arbeitszufriedenheit.
RBK: Auf der Hochschulebene auch?
EF: Auf jeden Fall, richtig kanalisiert ist Eigeninitiative auch auf der Hochschulebene wichtig. Die größte Eigeninitiative hat es ja früher bei den philosophischen Studien gegeben, mit dem Resultat, dass dann 18 Semester für das Studium gebraucht wurden. Diese Selbstdisziplin gehört dazu, bei jedem Job gibt es Durststrecken. Auch auf wissenschaftlicher Ebene: was glauben Sie, wie oft man ein Paper überarbeiten muss, damit es angenommen wird? Auch beim RBK: Wir haben unsere politischen Gegner zermartert, weil wir jede Woche eine Zeitung rausgebracht haben – auch wenn sie nur 5 Seiten hatte, und wenn die Matrizen gerissen sind, mussten wir alles noch mal schreiben. Selbstdisziplin und Verantwortung braucht man für jede Art von Erfolg – egal ob man ein Entwicklungshilfeprojekt in Afrika durchziehen oder reich werden will.
RBK: Hat Ihnen der RBK bei der Ausprägung dieser Fähigkeiten geholfen?
EF: Ja, aber es sind auch Leute hingegangen, die schon prädestiniert waren.
RBK: Was würden Sie heute studieren?
EF: Ich würde wieder VWL studieren, denn wichtige Fragen sind noch ungeklärt: Wie beeinflusst die Gesellschaft das Individuum, also die Präferenzen des Individuums? Was sind die neurobiologische Wurzeln von Präferenzen und beliefs – Die ganze Neuroökonomie? Ein Dauerbrenner ist auch: Wann wirkt sich individuell irrationales Verhalten auf die Gesellschaft aus und wann hat es keinen Einfluss – das berühmte Aggregationsproblem? Und dann die Makroökonomie – das ist ein einziger Torso, da gibt es fast nur ungelöste Fragen. Da ist das Feld, wo sich noch die meisten Ideologen tummeln, weil es eben so schwierig ist, weil der a priori Glauben eine größere Rolle spielt als empirische Evidenz, da hält sich das Bild vom Homo Oekonomicus noch sehr starr, da kann man nur den Kopf schütteln.
RBK: Ein anderes Thema noch: Wenn man die Politik beim Regeln aufstellen für die Finanzwirtschaft beobachtet, kann man ja meinen, dass sie bis jetzt grandios gescheitert ist. Sind Sie der Meinung, dass die Politik an die Ökonomie an Macht verloren hat über die Jahre und dass das demokratiegefährdend ist?
EF: Es ist immer demokratiegefährdend, wenn Politik käuflich ist. Es braucht Schranken der Finanzierung der Politik durch private Großspender. Ob das wirklich mehr geworden ist, kann man schwer sagen. Vor hundert Jahren war der Einfluss vielleicht größer. Jetzt haben wir zumindest eine gewisse Presse. Solche generalisierten Fragen sind schwer zu beantworten, dazu müsste man erst Macht definieren.
RBK: Was haben Sie von den Studierendenprotesten im vergangenen Jahr mitbekommen?
EF: Die sind ja entstanden durch die Ressourcenknappheit im Hochschulbetrieb. Ich glaube, dass die forschungsnahe Bildung der Wachstumsmotor schlechthin ist – es ist gefährlich, diese Bereiche unterzuversorgen.
RBK: Herr Fehr, vielen Dank!
Ein sehr gelungenes IV!
Ein sehr gutes Interview, auch wichtig einmal klarzustellen, dass in einer Nutzenfunktion viele verschiedene Dinge abgebildet werden können(also auch altruistische Ziele).
Auch Aussage, dass mathematisch fundierte Modelle wichtig sind, aber man sich nicht reinen mathematischen Spielerein verrennen darf müsste wohl öfter gemacht werden.
Bin gerade bei meiner Suche auf diese Seite aufmerksam geworden. Ich sage mal „großartig“, dieser Bericht! Beste Grüße, und weiter so!